Léon Gomberg, gescheiterter Herausforderer in der Gründungszeit der Betriebswirtschaftslehre

Hermann, Thomas;Coronella, Stefano;
2022-01-01

Abstract

In jüngerer Zeit ist das Interesse an der Ideengeschichte der Betriebswirtschaftslehre erneut erwacht. Der Beitrag trägt zu dieser Literatur bei. Wir richten die Lupe auf einen Autor, der heute bis auf wenige Ausnahmen (Dieter Schneider) nahezu vergessen ist: auf den russischen Betriebswirt Lev (später Léon) Gomberg, der in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts vor allem in deutscher und französischer Sprache veröffentlichte und in St. Gallen und Genf wirkte. Mit dem konzeptionellen Rahmen der Theorie der strategischen Handlungsfelder (Fligstein und McAdam) und Bourdieus Kapitalbegriff begreifen wir die Betriebswirtschaftslehre zu Gombergs Zeit als emergentes strategisches Handlungsfeld und Gomberg als Herausforderer in diesem Feld. Um frisches Licht auf diese Periode zu werfen, Gombergs Positionierungsstrategien und deren Scheitern zu erklären, greifen wir auf umfangreiches bisher nicht genutztes Material von und zu Gomberg und seiner Rezeption zurück. Folgende Ergebnisse unserer Untersuchung erscheinen bedeutsam: Gombergs reiches, in Russland und durch spätere Reisen erworbenes edukatives Kapital ermöglicht ihm eine außergewöhnliche Rezeption der internationalen Literatur, insbesondere der hoch entwickelten italienischen Ragioneria. Er setzt seit der Übersiedelung in die Schweiz nach anfänglichen Erfolgen in der Argumentation auf (konkurrierende) Nachbarfelder des emergenten Handlungsfeldes BWL, dabei häufig auf Außenseiter, in der Ragioneria auf Pisani, in der Nationalökonomie auf Menger oder Ehrenberg. Er setzt auf Theorie und Methode, verwendet auch in seinen deutschsprachigen Schriften einen ganz eigenen Code, gekennzeichnet durch viele Originalzitate aus der italienischen und französischen Literatur (oft ohne Übersetzung), eine Tatsache, die schon Schmalenbach aufregte. Die Theorie der strategischen Handlungsfelder prognostiziert, dass es nicht Methodenstreits, sondern unvorhergesehene externe Ereignisse sind, die (häufig) den entscheidenden Impuls für den Übergang eines emergenten Feldes in ein (vorübergehend) stabiles und autonomes Feld anstoßen. Genau dies geschah mit der Betriebswirtschaftslehre: nicht der Methodenstreit von 1912, sondern die Inflation war der entscheidende Anstoß, mit der sie in den Worten Gutenbergs zu sich selbst als Wissenschaft fand. Gomberg verpasste dies. Seine spätere Kritik an der Entwicklung erscheint auf Französisch, in den 1930er-Jahren sind es nur Schönpflug und Töndury, die sein theoretisches Anliegen würdigen. Auch die Umstände seines unrühmlichen Abgangs in St. Gallen, der ihn seines symbolischen Kapitals als Professor beraubt, vermitteln den Eindruck, dass es ihm an Kenntnis der Spielregeln mangelte, die für den Erfolg im wissenschaftlichen Feld notwendig ist. Schmalenbach lehnt Gomberg scharf ab, ebenso Nicklisch, trotz inhaltlicher Nähe. Beide entwickeln sich über ihre Publikationen und über ihr gesamtes Wirken zu institutionellen Unternehmern (und dann Etablierten) bei der Stabilisierung des Handlungsfeldes BWL.
2022
Hermann, Thomas; Coronella, Stefano; Santaniello, Lucrezia
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Utilizza questo identificativo per citare o creare un link a questo documento: https://hdl.handle.net/11568/1216207
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