Im Rahmen der allgemeinen, diesem Sammelband zugrundeliegenden Überlegung über die Beziehung zwischen deutschsprachiger Literatur und Gedächtnis der Shoah verdient das literarische Vermächtnis des Surrealismus nähere Aufmerksamkeit. Das Thema ist eher spärlich behandelt worden, und erst in jüngster Zeit sind Versuche systematischer und historisch breit angelegter Untersuchungen unternommen worden. Dieser Sachverhalt darf über die Bedeutung nicht hinwegtäuschen, die dem Einfluss der in Frankreich entstandenen Bewegung auf den literarischen deutschsprachigen Bereich vor allem in den zentralen Jahrzehnten der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts beizumessen ist. In einem von der Zäsur des Zweiten Weltkriegs und dem fortschreitenden Bewusstwerden über die in den Konzentrations- und Vernichtungslagern begangenen Verbrechen zutiefst geprägten geschichtlichen Kontext entwickelten nämlich einige Schriftsteller: innen, besonders jüdischer Herkunft, surrealistisch ausgerichtete Schreibweisen und Poetiken, nicht zuletzt mit dem Versuch, sich in ihren Werken mit der jüngsten Vergangenheit und der durch sie gezeichneten Gegenwart auseinanderzusetzen. Ihre Suche nach einer literarischen Form und einer Sprache, die dieser ständig an der Grenze des Unsagbaren und Unfassbaren zu scheitern drohenden Auseinandersetzung mit der Gewalt der Geschichte und ihren Folgen auf das Subjekt angemessen wären, profitierte auch von den Impulsen und Errungenschaften des Surrealismus. Dieser Themenkomplex wird im Folgenden am Beispiel von Peter Weiss (1916–1982) und Wolfgang Hildesheimer (1916–1991) ausgeführt. Beide Autoren – die ihre künstlerische Tätigkeit als Maler begonnen hatten – hatten überwiegend während ihrer durch Hitlers Machtergreifung und ihre jüdische Herkunft veranlassten Emigration die Gelegenheit, den Surrealismus, dessen Produktion im damaligen Deutschland als entartete und deswegen verbotene Kunst galt, näher kennen zu lernen; als Bildkünstler setzten sie sich intensiv mit seinen Praktiken auseinander und eigneten sich diese auf eine sehr persönliche Weise an, die sich auch als literarisch produktiv erwies.

Gedächtnis der Shoah und Surrealität bei Wolfgang Hildesheimer und Peter Weiss

Serena Grazzini
2024-01-01

Abstract

Im Rahmen der allgemeinen, diesem Sammelband zugrundeliegenden Überlegung über die Beziehung zwischen deutschsprachiger Literatur und Gedächtnis der Shoah verdient das literarische Vermächtnis des Surrealismus nähere Aufmerksamkeit. Das Thema ist eher spärlich behandelt worden, und erst in jüngster Zeit sind Versuche systematischer und historisch breit angelegter Untersuchungen unternommen worden. Dieser Sachverhalt darf über die Bedeutung nicht hinwegtäuschen, die dem Einfluss der in Frankreich entstandenen Bewegung auf den literarischen deutschsprachigen Bereich vor allem in den zentralen Jahrzehnten der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts beizumessen ist. In einem von der Zäsur des Zweiten Weltkriegs und dem fortschreitenden Bewusstwerden über die in den Konzentrations- und Vernichtungslagern begangenen Verbrechen zutiefst geprägten geschichtlichen Kontext entwickelten nämlich einige Schriftsteller: innen, besonders jüdischer Herkunft, surrealistisch ausgerichtete Schreibweisen und Poetiken, nicht zuletzt mit dem Versuch, sich in ihren Werken mit der jüngsten Vergangenheit und der durch sie gezeichneten Gegenwart auseinanderzusetzen. Ihre Suche nach einer literarischen Form und einer Sprache, die dieser ständig an der Grenze des Unsagbaren und Unfassbaren zu scheitern drohenden Auseinandersetzung mit der Gewalt der Geschichte und ihren Folgen auf das Subjekt angemessen wären, profitierte auch von den Impulsen und Errungenschaften des Surrealismus. Dieser Themenkomplex wird im Folgenden am Beispiel von Peter Weiss (1916–1982) und Wolfgang Hildesheimer (1916–1991) ausgeführt. Beide Autoren – die ihre künstlerische Tätigkeit als Maler begonnen hatten – hatten überwiegend während ihrer durch Hitlers Machtergreifung und ihre jüdische Herkunft veranlassten Emigration die Gelegenheit, den Surrealismus, dessen Produktion im damaligen Deutschland als entartete und deswegen verbotene Kunst galt, näher kennen zu lernen; als Bildkünstler setzten sie sich intensiv mit seinen Praktiken auseinander und eigneten sich diese auf eine sehr persönliche Weise an, die sich auch als literarisch produktiv erwies.
2024
Grazzini, Serena
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Utilizza questo identificativo per citare o creare un link a questo documento: https://hdl.handle.net/11568/1230627
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