„Unvollkommene Gerechtigkeit“. Hegel, Antigone und die Menschenrechte

Alberto L. Siani
2018-01-01

Abstract

Antigone ist zweifellos eine der mächtigsten erdichteten Figuren aller Zeiten. Ihre Tapferkeit und ihr tragischer Untergang haben Künstler und Philosophen inspiriert, genauso wie ihr Widerstand gegen den Tyrannen Kreon zum politischen Symbol der Menschenrechte, der weiblichen Selbstbehauptung, der Unantastbarkeit der menschlichen Würde geworden ist. Unter den komplexesten Deutungen des Sophokleischen Meisterstücks finden wir diejenige Hegels, die auf den ersten Blick sogar befremdlich aussehen mag, da Hegel zufolge Antigone und Kreon gleichermaßen schuldig und gleichermaßen unschuldig sind, und beide sowohl Recht als auch Unrecht haben. Diese Auffassung beruht auf Hegels Verständnis der Sittlichkeit der griechischen Polis und der tragischen Gerechtigkeit, einem Modell, das zugleich Diskontinuität als auch Kontinuität zum modernen, prosaischen, auf dem Prinzip der subjektiven Freiheit begründeten Staat aufweist. Eben die Berücksichtigung von Kontinuität und Diskontinuität zum tragischen Modell erlaubt es, Hegels Verständnis der Gerechtigkeit im modernen Staat auf offene und anschlussfähige Art und Weise zu interpretieren, und dabei die vielen Varianten des Klischees von Hegel als Theoretiker eines absoluten, vergöttlichten Staats, in dem die Geschichte zum Ende gekommen sei, zu untergraben. Wie ich zeigen werde, bleibt Hegel zufolge die Gerechtigkeit im modernen Staat immer unvollkommen und der Kontingenz der zwischenstaatlichen Beziehungen ausgesetzt. Nur durch die die Grenzen jedes einzelnen Staats sprengende Dimension der Weltgeschichte ergibt sich das einzige uneingeschränkte Recht, nämlich das Recht des Weltgeistes, das am Schnittpunkt von objektivem und absolutem Geist und von Politik und Philosophie verortet ist. Dieses Recht, das jedem anderen besonderen Recht (einschließlich des Staatsrechts) überlegen ist, wird von Hegel, anders als das von Antigone verteidigte Recht, nicht als einseitig und begrenzt, sondern als übergreifend und absolut präsentiert und bietet m.E. einen attraktiven Ausgangspunkt für eine Philosophie der Menschenrechte, die nicht abstrakt kosmopolitisch sein will, sondern nach einer reflektierenden Vermittlung verschiedener einseitiger Dimensionen und Instanzen des Rechts strebt. Indem ich diesen ganzen Zusammenhang, von Hegels Deutung der Antigone bis zu seiner Idee des Rechts des Weltgeistes als absolutes Recht über seine Auffassung des modernen Staats, rekonstruiere und erläutere, werde ich auch versuchen, das Potenzial des Hegelschen Denkens für die Philosophie der Menschenrechte – wenn auch nur ansatzweise – zu erschließen. Meine Argumentation ist dementsprechend in fünf Schritte gegliedert. 1) Zunächst erläutere ich den Hegelschen Begriff des Tragischen und daran anschließend die ethisch-politisch grundlegende Rolle der Tragödie in der griechischen Sittlichkeit. Danach wird 2) die Auflösung der griechischen Sittlichkeit durch die nämlichen Prinzipien der Tragödie erörtert. In Teil 3) setze ich mich mit Recht und Gerechtigkeit in der modernen Welt, in welcher Hegel zufolge das tragische Schicksal der Politik Platz gemacht hat, auseinander. Zum Schluss widme ich mich 4) der Wiederkehr des Tragischen im zwischenstaatlichen Recht, der Weltgeschichte als Weltgericht und 5) der Rolle der Menschenrechte in der Auseinandersetzung mit der tragischen Gegenüberstellung von vermeintlich absoluten einseitigen Rechten in der zeitgenössischen Welt.
2018
Siani, Alberto L.
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Utilizza questo identificativo per citare o creare un link a questo documento: https://hdl.handle.net/11568/923302
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